• Auftrag

    Feature
  • Jahr

    2020

Glücklicher, ökologischer und gesünder dank flexibler Arbeit?

Seit die ganze Welt vom Coronavirus in Schach gehalten wird, erfahren viele Menschen was es bedeutet, flexibel zu arbeiten.

 

«Es ist schon chillig. Ganz gemütlich in den Tag starten, nirgends hinmüssen… Wenn ich mal müde werde oder mich schlecht konzentrieren kann, gehe ich einfach kurz raus oder lege mich hin. Ich kann dann ja am Abend etwas länger arbeiten.», erzählt mir meine Freundin Jeannette bei einem Spaziergang – natürlich mit dem nötigen Abstand – durch die Wälder des Zürichbergs. Wir treffen uns an einem Mittwochnachmittag.

 

Jeannette konnte bei ihrem jetzigen Arbeitgeber vor der Coronakrise praktisch nie Home-Office machen, obwohl sie mehrmals darum gebeten hatte. Jetzt arbeitet sie fast ausschliesslich von zuhause aus. Meine Freundin erzählt mir, wie gut es ihr tue, so flexibel zu sein. «Ich treffe mich öfters mit meinen pensionierten Eltern zum Mittagessen, das wäre sonst nicht so einfach möglich. Oder ich arbeite voll durch und mache dafür schon um 15.30 Uhr Schluss. Dann habe ich noch genügend Zeit, die Sonne zu geniessen. Im Büro traut man sich das gar nicht.» Ich erzähle Jeannette auch von meinen Erfahrungen, zum Beispiel davon, dass ich jetzt jeden Tag vor dem Klingeln des Weckers aufwache. Früher musste ich fast täglich für mein Studium nach Bern oder Chur pendeln. Das bedeutete, der Wecker unterbrach schon um sechs Uhr morgens jähe meinen Schlaf. Oder davon, wie viel Sport ich jetzt treibe und wie oft ich draussen in der Natur bin – schliesslich habe ich fast vier Stunden mehr Zeit pro Tag. Und ich erzähle davon, wie viel entspannter ich im Allgemeinen bin. Ich habe stärker das Gefühl, mein Leben selbst in der Hand zu haben.

 

Mehrere Umfragen und Studien geben Hinweise darauf, dass wir beiden nicht die Einzigen sind, die die Vorteile des «Remote Working» (zu Deutsch «Fernarbeit» oder «flexibles Arbeiten») für sich entdeckt haben. Gemäss einer Studie der Work Smart Initiative[1] in Zusammenarbeit mit der FHNW sind sogenannte «Smart Worker» (ArbeiterInnen, die flexibel arbeiten)

  • produktiver,
  • in der Lage, ihr Arbeits- und Freizeitleben besser zu managen,
  • ausgeglichener in ihrer Life-Balance und
  • innovativer.

Aber was steckt dahinter? Anne-Lise Schneider ist psychologische Beraterin bei ICAS und selbstständig (und flexibel) in ihrer eigenen Praxis tätig. In Beratungsgesprächen mit Angestellten der Dienstleistungsbranche, von denen die meisten in den letzten Wochen ins Home-Office verbannt wurden, erfährt sie, was die Menschen umtreibt. «Wer flexibel arbeitet, fühlt sich weniger kontrolliert und lebt selbstbestimmter. “Tote” Zeit kann man nutzen – hat man z.B. gerade nichts zu tun, kann man mal kurz die Küche aufräumen. Tendenziell hat man mehr Zeit und kann sich diese besser einteilen.»

 

Die Möglichkeit des flexiblen Arbeitens bringt also vor allem ein Gefühl von mehr Selbstbestimmung, Freiheit und mehr Zeit. Hinzu kommen diverse Vorteile wie beispielsweise die Kosten, die gespart werden können, wenn die Reise zum Arbeitsort wegfällt. Gemäss dem  Artikel[2] “working from home increases productivity” von businessnewsdaily.com spart ein Amerikaner, der nicht mehr pendelt, durchschnittlich 4’500 Dollar Benzinkosten pro Jahr. Was mich betrifft, so könnte ich mir die Kosten für mein GA sparen. Damit wäre ich Ende Jahr um ungefähr 1’800 Franken reicher (als Studentin, sonst wären es sogar ca. 2’800 Franken). Auch die Umwelt würde es uns danken, wenn wir uns die ein oder andere Reise sparen würden. In Deutschland liegt der jährliche CO2-Ausstoss eines Pendlers bei 1.3 Tonnen. Bei Langstreckenpendlern ist er sogar höher als der gesamte durchschnittliche CO2-Fussabdruck eines Deutschen von 12.5 Tonnen.

 

Was die allgemeine Gesundheit angeht, so verbringen Fernarbeiter in den USA durchschnittlich 25 Minuten pro Woche mehr mit Sport als Büro-Arbeiter. Sie sind glücklicher und fühlen sich insgesamt weniger gestresst, was sich positiv auf Wohlbefinden und Gesundheit auswirkt.

 

Und was haben Unternehmen von dieser doch noch recht futuristisch anmutenden Arbeitsweise? Abgesehen von zufriedeneren, motivierteren und gesünderen Mitarbeitern: massive Kostenersparnisse! Wenn die Firma nicht so viele Arbeitsplätze bereitstellen muss, wie sie angestellte Mitarbeitende hat, lässt sich ganz schön viel sparen. Durchschnittlich über 10’000 Franken pro Jahr und Mitarbeiter, der zuhause arbeitet. Der nordamerikanische Telekommunikationskonzern hat dank seines «telework program»[3] Immobilienkosten in der Höhe von 30 Millionen Dollar gespart. Hinzu kam ein «Produktivitätsgewinn» von 150 Millionen Dollar, womit wir beim nächsten Punkt wären. Wer nämlich denkt, zuhause arbeite man weniger produktiv als im Büro, liegt falsch. Laut einer Umfrage von Owllabs[4] gaben mehr Fernarbeiter als Büroarbeiter an, über 40 Stunden pro Woche zu arbeiten. Wer nicht «from nine to five» arbeiten muss, kann sich besser nach seinem eigenen Biorhythmus richten. Will heissen, zu Zeiten arbeiten, zu denen man auch produktiv ist – und nicht gerade Gefahr läuft, über dem Laptop einzuschlafen. Für manche mag das früh morgens sein, für andere wiederum spät abends.

 

Remote Work scheint auf den ersten Blick für jeden arbeitstätigen (oder studierenden) Menschen wie ein wahrgewordener Traum. Jedoch sei Fernarbeit nicht für jeden das richtige Konzept, bemerkt Anne-Lise Schneider. «Wenn man Mühe hat sich zu organisieren, hat man daheim noch viel mehr Mühe. Weil niemand da ist, der schaut, was man macht.» Und was ist, wenn das Wohnzimmer zum Arbeitsplatz mutiert? Ist es da nicht allzu verlockend, auch mal in der Freizeit die Mails zu checken? Jeannettes Antwort auf die Frage ist unmissverständlich. «Irgendwann ist es ausgeartet. Ich habe am Karfreitag, am Ostersonntag und am Ostermontag gearbeitet. Irgendwann kennst du keine Grenzen mehr. Das ist schon ein Nachteil.» Ein Frosch hüpft uns über den Weg und wir erschrecken kurz, bevor wir ihm fasziniert dabei zusehen, wie er den Spazierweg überquert.

 

Die Balance zwischen Life und Work kann also aus den Fugen geraten. Das bestätigt auch Schneider. Sie rät daher, sich einen Arbeitsplatz einzurichten und sich Strukturen zu schaffen. Arbeitsbeginn, Pausen und Feierabend sollten eingehalten und die Arbeitssachen am Ende des Tages weggeräumt werden. Ein weiteres Problem erkennt sie darin, dass flexibel arbeitende Menschen oftmals weniger soziale Kontakte haben. «Für viele Menschen ist es schwierig, lange alleine zu sein und nicht aus der Wohnung rauszukommen.» Für die meisten Arbeitnehmenden sind die sozialen Kontakte am Arbeitsort genau so wichtig wie die Arbeit an sich.

 

Nachdem der kleine grüne Waldbewohner das erfrischend feuchte Gebüsch erreicht hat, erzählt Jeannette weiter. «Es ist komisch, den ganzen Tag mit niemandem zu sprechen. Ich höre eigentlich gar nichts mehr von meinen Kollegen. Der Austausch fehlt schon etwas, einfach die kleinen Dinge. Wenn man sich zum Beispiel über etwas aufregt, kann man nicht einfach mal kurz mit dem Tischnachbarn lästern. Ich merke schon, wie wichtig das eigentlich ist.»

 

Flexibles Arbeiten hat, wie auch die Büroarbeit, Vor- und Nachteile. Ich bin überzeugt, dass es sowohl für Unternehmen als auch für Arbeitnehmende und die Gesellschaft insgesamt viele Vorteile mit sich bringen würde, wenn wir nach Corona teilweise an den Änderungen festhalten, die wir gezwungenermassen eingeführt haben. Der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil möchte gemäss der Zeit Online[5] das Recht auf Home-Office gar im Gesetz verankern: «Jeder, der möchte, und bei dem es der Arbeitsplatz zulässt, soll im Homeoffice arbeiten können – auch wenn die Corona-Pandemie wieder vorbei ist», so Heil. Vizekanzler Olaf Scholz zieht mit: «Die vergangenen Wochen haben gezeigt, wie viel im Homeoffice möglich ist – das ist eine echte Errungenschaft, hinter die wir nicht mehr zurückfallen sollten». Falls dieser Plan in die Realität umgesetzt wird, müsste wohl jeder für sich herausfinden, mit wie viel Flexibilität und mit wie wenig äusseren Strukturen er sich wohlfühlt.

 

Ich für meinen Teil hoffe fest, dass Home-Office und Online-Vorlesungen auch in Zukunft zu unserem Alltag gehören. Aber eben nicht nur.

 

[1] https://work-smart-initiative.ch/media/68170/work-smart_leitfaden-fuehrungskraefte_de.pdf

[2] https://www.businessnewsdaily.com/15259-working-from-home-more-productive.html

[3] https://www.networkworld.com/article/2316163/inside-at-t-s-telework-program.html

[4] https://www.owllabs.com/state-of-remote-work/2019?hs_preview=jWDXIXgj-13385250578

[5] https://www.zeit.de/arbeit/2020-04/hubertus-heil-homeoffice-gesetz-corona-wahlmoeglichkeit


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